Sonntag, 9. Oktober 2016

Autismus in der Kita


Was ist Autismus:

„Autismus ist eine angeborene schwerwiegende Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsstörung. Es handelt sich um eine neurologische Erkrankung, d.h. die Funktionsweise des Gehirns ist eingeschränkt oder stark beeinflusst.“[1]

Im Allgemeinen sprechen wir über ASS (Autismus-Spektrumsstörung). Hierbei wird unter frühkindlichem Autismus, Asperger Autismus, Functioning Autismus und Atypischen Autismus unterschieden.

Da mein Schwerpunkt im frühkindlichen Autismus liegt, erkläre ich hier nur kurz die Unterschiede der einzelnen Formen[2]:

Der Atypische Autismus zeigt gegenüber dem frühkindlichen Autismus Unterschiede beim Zeitraum der Diagnose oder in der Ausprägung der Symptome.

Functioning Autismus oder auch Funktionaler Autismus zeigt in der Regel die Symptome des frühkindlichen Autismus. Hinzu kommt hier allerdings die zusätzliche Ausprägung des Intelligenzquotienten, welcher in diesem Fall besonders hoch oder niedrig sein kann.

Eine besondere Form von Autismus zeigt das Asperger Syndrom. Diese Form zeigt kaum Beeinträchtigungen in der kognitiven und Sprachentwicklung. Deutlich wird auch immer wieder, dass die Kinder einen durchschnittlichen bis überdurchschnittlichen IQ aufweisen. Einschränkungen haben Menschen, die unter dem Asperger Syndrom leiden im Bereich der sozialen Interaktion, dem Sozialverhalten und der Motorik.

Der frühkindliche Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die die gesamte psychische Entwicklung beeinflusst. Meist zeigt sie sich vor dem dritten Lebensjahr. Hier zeigen sich neben Beeinträchtigungen der sozialen Interaktion vor allem Entwicklungsstörungen in der Sprachentwicklung (kein Sprechen oder zusammenhangslose Laute) bzw. Kommunikation. Hinzu kommen sich wiederholende (repetitive) und stereotype Verhaltensweisen.

Das Hauptsymptom liegt im Bereich der sozial-emotionalen Entwicklung durch die „Abkapselung“ von der menschlichen Umwelt. Autistische Kinder nehmen selten Kontakt zu anderen Menschen auf. Lieber beschäftigen sie sich stundenlang allein. Gefühle, Zuneigung, Zärtlichkeiten ihren Mitmenschen gegenüber sind nicht zu erkennen. Würden wir diese Kinder dazu „zwingen“, würde eher eine Abwehrreaktion erfolgen, als das Einlassen auf die Situation. Wollen autistische Kinder mehr über ihren Mitmenschen erfahren, tun sie dies durch Riechen, Tasten oder Mundkontakt. Aber bis dahin ist es ein langer Weg!


Auch im Bereich der Wahrnehmung gibt es Entwicklungsstörungen. Die Sinne des autistischen Kindes nehmen nur winzige Einzelheiten war, welche dann aber genau registriert werden. Zwei weitere Aspekte der Wahrnehmung sind das Sehen und Hören. Wenn wir von einem autistischen Kind angesehen werden, haben wir oft das Gefühl, es würde durch uns durchsehen. Sprechen wir es dann an, erfolgt meist keine Reaktion und wir stellen uns die Frage: „Kann es uns nicht hören oder möchte es uns nicht hören?“ Ändern wir den akustischen Reiz, in dem wir beispielsweise unsere Stimme durch einen hohen Piep Ton ersetzen, kann es durchaus zu einer Reaktion kommen. Aufgefallen ist mir in der Praxis auch immer wieder, dass Kinder mit frühkindlichem Autismus keine Wahrnehmung in Bezug auf Kälte bzw. Wärme und Schmerzen haben oder sie nicht zeigen.
Stereotype oder aggressive (auch gegen sich selbst) Verhaltensweisen zeigen sich oft durch Veränderungen ihrer Umwelt. Die stereotypen Verhaltensweisen dienen als Schutzfunktion, aber auch als Ausdruck ihres inneren verzweifelten Konflikts.
Als letzten Punkt möchte ich die übermäßige Bindung an Einzelobjekten erwähnen, denn so habe ich Maja kennengelernt.
Als Maja zu uns in die Kita kam, war sie circa ein Jahr alt. Zu dieser Zeit hieß es in unserem Hauskonzept noch: Gruppenarbeit. Da ich bei den Kindern im Jahr vor der Schule gearbeitet hatte, hatte ich nur sehr selten Kontakt zu ihr. Es gibt ein Bild, was ich vor Augen habe, wenn ich an diese Zeit zurückdenke.

„Maja steht mit Rucksack auf dem Rücken und Nuckel im Mund vor der Tür zur Treppe nach unten.“


Ihr Blick wirkte ängstlich, aber auf Ansprache reagierte sie nicht. So erlebte ich sie das erste Jahr bei uns in der Kita.
Als Maja fast 5 Jahre alt war, hieß es dann, sie kommt nach unten zu den Kindern im Jahr vor der Schule. Zu diesem Zeitpunkt haben wir in der Abteilung bereits offen gearbeitet. Das bedeutet: Es waren circa 38 Kinder, 5 Erzieher und 6 Funktionsräume. Wir alle hatten keine Erfahrung mit Autismus und was das für unsere Arbeit oder auch für das Kind bedeutet. Eine komplett neue Umgebung und keine Bezugsperson. Das sollte ein großer Schritt für sie werden und auch unseren Erfahrungsbereich erweitern.
Zunächst haben wir uns mit dem Krankheitsbild auseinandergesetzt und mit der bisherigen Bezugserzieherin Gespräche geführt. Das nahm uns allerdings nicht die Bedenken, die wir zu diesem Zeitpunkt hatten. Wir wussten, es muss eine Kollegin geben, die Maja sehr intensiv in der Übergangsphase begleitet. Ich nahm diese Herausforderung an und eine Kollegin im Haus gab mir das Buch „Dibs. Ein autistisches Kind befreit sich aus seinem seelischen Gefängnis.“ von Virginia M. Axline.


„Mit fünf Jahren war Dibs so scheu und ungebärdig wie ein kleines Tier. Er sprach nicht, lachte nicht, spielte nicht. Er war ein zutiefst unglückliches Kind, eingesperrt in seinem seelischen Gefängnis. Mit sechs Jahren aber war Dibs ein aufgeweckter Junge. Diese erstaunliche Wandlung bewirkte Virginia Axline. Während eines Jahres kam Dibs jede Woche zu einer Spielstunde und entwickelte unter ihrer behutsamen Führung seine eigene Persönlichkeit. Schritt für Schritt hat die Autorin den erstaunlichen Weg nachvollzogen. Von ihrer ersten Begegnung mit dem Kind, das "kein Lachen und kein Glück" zu kennen schien, bis zu dem Tag, an dem Dibs strahlend erklärte: "Ich komme und fülle mich wieder mit Glück." Ein fesselnder und spannender Bericht!“[3]
Viele, die dieses Buch gelesen haben, sagen natürlich, dass es sich nicht um ein autistisches Kind gehandelt haben kann, sondern dass es stark verhaltensauffällig war. Das mag sein, ich bin kein Arzt und kenne leider auch Dibs nicht, aber die Geschichte hat mich gefesselt. Vor allem die Inhalte der Therapiestunden und die Art und Weise, wie auf Dibs eingegangen wurde. Ich wollte es nun unbedingt probieren, war hoch motiviert und habe den ersten Tag mit Maja herbeigesehnt.
Es war schließlich bald soweit und ich wurde sehr schnell auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Maja hat mich nicht wahrgenommen, Angebote nicht wahrgenommen und keinerlei Reaktion gezeigt. Sie hat ausdauernd aus dem Fenster geschaut oder ist durch den Garten gelaufen und hat dabei in den Himmel gesehen. Oft habe ich mich gefragt, ob sie etwas Bestimmtes sucht oder Dinge sieht, die ich nicht wahrnehme. Ich war fasziniert von ihr und wollte nicht aufgeben. Mein Steckenpferd in dieser Abteilung war die Forscherecke, so dass ich den größten Teil des Tages dort verbringen musste. Nun stellte ich mir die Frage, wie schaffe ich es, dass Maja diesen Ort aufsucht? Ich glaube, ich konnte mit der Lage der Forscherecke bei ihr punkten. Von dort aus ging es nämlich direkt ins Büro der Kitaleitung und das fand Maja immer sehr spannend. Und so kam der Tag, dass sie von sich aus hereingekommen ist.
Die Forscherecke war nicht besonders groß. In der Mitte ein Tisch mit eingelassener Duschtrasse, in dem sich Knetsand befand. Dieser Sand besteht zu „98 % aus bakterienfreiem, natürlichen Quarzsand. Seine einzigartige Geschmeidigkeit verdankt das Produkt einem patentierten, staubfreien, nicht toxischen Bindemittel namens PDMS.“[4] Der Sand ist formbar und für die Förderung der taktilen Wahrnehmung sehr geeignet. Wie sich gezeigt hat, darüber hinaus auch für die Förderung von sozialen Beziehungen. Maja fand sehr schnell Gefallen an diesem Sand und kam nun jeden Tag. Trotz alledem wurde ich weiterhin nicht beachtet oder angeschaut. Ich saß also einige Wochen fast täglich neben Maja und knetete wortlos mit ihr im Knetsand. Dabei habe ich immer wieder über das Buch „Dibs“ nachgedacht und überlegt, welche Therapieinhalte auch in der Kita umsetzbar wären. Irgendwann begann ich unser Spiel mit Worten zu begleiten, sprach sie dabei jedoch nie direkt an. Ich sagte, welche Formen wir gerade benutzen oder was ich gebaut habe. Langsam begann sie, sich die Dinge, über die ich sprach, anzusehen und mein Gebautes kaputt zu machen. Mit der Zeit kamen auch einige andere Kinder dazu und jeder baute für sich. Ich wollte wissen, ob Maja die Kinder kennt und habe angefangen, sie zu bitten, mir bestimmte Ausstechformen zu geben oder einem Kind am Tisch diese herüberzureichen. Es hat funktioniert. Sie wusste genau, wie jedes Kind am Tisch heißt. Sie wusste genau, welche Namen die Gegenstände hatten und es dauerte nun nicht mehr lange, bis wir alle gemeinsam im Sand etwas bauen konnte. Dabei gab Maja auch ohne Worte genaue Vorgaben, was genau gebaut werden soll! Alles andere wurde zerstört.
Ich hatte es also geschafft und einen Zugang zu Maja gefunden. Wenn sie morgens in die Kita kam und ich noch nicht im meiner Ecke war, suchte sie mich, nahm meine Hand und zog mich zum Knetsand. Dies wurde zu unserem morgendlichen Ritual und als sie auch hier sicher war, konnte sie mir nach unserem Ritual zeigen, in welchen Funktionsraum sie wollte. In meiner Erinnerung nahm sie zunächst den nächstgelegenen Raum. Das war das Atelier und sie machte hier sehr viel Erfahrungen mit Farbe und Kleister. Es wirkte wie ein tägliches Experiment. Meine Kollegen und ich haben sie experimentieren lassen. Das Chaos danach mussten zwar wir beseitigen, aber sie genoss das Manschen und Kleistern. Worauf sie dabei immer sehr viel Wert gelegt hatte, war im Anschluss die Reinigung bei sich selbst. Sie wusch sich und zog sich bei Bedarf selbstständig um.
Ich machte mir wieder Gedanken, habe an Dibs gedacht und überlegte gemeinsam mit meinen Kollegen, was für Maja ein weiterer Erfahrungsbereich wäre. Wir beschlossen ein Bällebad einzurichten. Es war ein für sie neuer Raum, den sie nur schrittweise erkundete. Ich habe sie begleitet, ihr gezeigt, wie sie die Bälle spüren kann und sie hat es nachgemacht. Mit der Zeit durfte ich auch andere Kinder dazu lassen und sie hat sich mit ihnen gemeinsam auf das Spiel eingelassen. Das war ein großer Fortschritt für sie.
Neben der täglichen Arbeit in der Kita, gab es für Maja natürlich auch Therapien. Wir hatten das große Glück, dass die Therapeuten zu uns ins Haus gekommen sind und wir bei den Stunden auch hospitieren durften. In der Therapie lernte Maja die Kommunikation über Bildkarten. Wir wollten dieses Prinzip im Kitaalltag integrieren, was uns im Nachhinein allerdings nie wirklich gelungen ist. Sie waren sichtbar angebracht, wir haben sie mit Maja und den Kindern besprochen. Maja bevorzugte aber lieber die Kommunikation über den Körperkontakt. Wir hatten in den Monaten alle einen sehr guten Zugang zu ihr gefunden. Sie hat auf uns reagiert und uns angesehen. Sie hat gezeigt, was sie wollte und wie sie sich fühlte.
In der Musik zeigte sie ihre Gefühle sehr deutlich. So gab es Lieder, bei denen sie glücklich und lachend durch den Raum gesprungen ist und Töne von sich gab, bei denen wir den Eindruck hatten, sie würde versuchen, mit zu singen. Es gab Lieder, bei denen sie die anderen Kinder beobachtet und studiert hat und es gab Lieder, bei denen sich das aggressive Verhalten geäußert hat. In diesen Situationen kam es auch häufig vor, dass wir das Angebot beenden mussten und die anderen Kinder in die anderen Räume schicken mussten. Ich weiß bis heute nicht, was die Auslöser dafür waren. Es gab auch nur bestimmte Kinder, bei denen sie ihrer Wut freien Lauf ließ. Es ist aber aufgefallen, dass sich diese Kinder äußerlich sehr ähnlich waren.
Das Jahr neigte sich leider dem Ende und ich verließ die Kita. Ich muss aber sagen, dass ich nie wieder so eine intensive Bindung zu einem Kind hatte, wie zu Maja. Sie konnte nach diesem Kitajahr ihre Gefühle und Zuneigung oder Ablehnung zeigen. Sie hat uns umarmt, hat uns einen Kuss auf die Wange gegeben und wenn sie eine Handlung nicht in Ordnung fand, ihrer Wut freien Lauf gelassen. Es gab auch Kollegen, die sie bis zum Schluss völlig ignoriert hatte. Das war für uns aber in Ordnung, da für uns als Team eines feststand:

„Wir wollen Maja das bestmögliche an Entwicklungschancen geben, was uns als Kita möglich ist!“

Und genauso funktioniert es in der inklusiven Arbeit! Wichtig ist, dass das gesamte Team die Entscheidung, ein Kind mit dieser Besonderheit aufzunehmen, mit voller Überzeugung trägt und sich das Team gegenseitig jeden Tag, der immer neue Herausforderungen mit sich bringen wird, unterstützt!


#Autismus
#Autismus_in_der_Kita





Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen