Was ist Autismus:
„Autismus ist eine
angeborene schwerwiegende Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsstörung.
Es handelt sich um eine neurologische Erkrankung, d.h. die Funktionsweise des
Gehirns ist eingeschränkt oder stark beeinflusst.“[1]
Im Allgemeinen sprechen wir
über ASS (Autismus-Spektrumsstörung). Hierbei wird unter frühkindlichem
Autismus, Asperger Autismus, Functioning Autismus und Atypischen Autismus
unterschieden.
Da mein Schwerpunkt im
frühkindlichen Autismus liegt, erkläre ich hier nur kurz die Unterschiede der
einzelnen Formen[2]:
Der Atypische Autismus zeigt gegenüber dem frühkindlichen Autismus
Unterschiede beim Zeitraum der Diagnose oder in der Ausprägung der Symptome.
Functioning
Autismus oder auch Funktionaler Autismus zeigt in der Regel die
Symptome des frühkindlichen Autismus. Hinzu kommt hier allerdings die zusätzliche
Ausprägung des Intelligenzquotienten, welcher in diesem Fall besonders hoch
oder niedrig sein kann.
Eine besondere Form von
Autismus zeigt das Asperger Syndrom.
Diese Form zeigt kaum Beeinträchtigungen in der kognitiven und Sprachentwicklung.
Deutlich wird auch immer wieder, dass die Kinder einen durchschnittlichen bis
überdurchschnittlichen IQ aufweisen. Einschränkungen haben Menschen, die unter
dem Asperger Syndrom leiden im Bereich der sozialen Interaktion, dem
Sozialverhalten und der Motorik.
Der frühkindliche Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung,
die die gesamte psychische Entwicklung beeinflusst. Meist zeigt sie sich vor
dem dritten Lebensjahr. Hier zeigen sich neben Beeinträchtigungen der sozialen Interaktion vor allem Entwicklungsstörungen
in der Sprachentwicklung (kein
Sprechen oder zusammenhangslose Laute) bzw. Kommunikation. Hinzu kommen sich wiederholende (repetitive) und stereotype Verhaltensweisen.
Das Hauptsymptom liegt im
Bereich der sozial-emotionalen Entwicklung durch die „Abkapselung“ von der
menschlichen Umwelt. Autistische Kinder nehmen selten Kontakt zu anderen
Menschen auf. Lieber beschäftigen sie sich stundenlang allein. Gefühle,
Zuneigung, Zärtlichkeiten ihren Mitmenschen gegenüber sind nicht zu erkennen.
Würden wir diese Kinder dazu „zwingen“, würde eher eine Abwehrreaktion
erfolgen, als das Einlassen auf die Situation. Wollen autistische Kinder mehr
über ihren Mitmenschen erfahren, tun sie dies durch Riechen, Tasten oder
Mundkontakt. Aber bis dahin ist es ein langer Weg!
Auch im Bereich der
Wahrnehmung gibt es Entwicklungsstörungen. Die Sinne des autistischen Kindes
nehmen nur winzige Einzelheiten war, welche dann aber genau registriert werden.
Zwei weitere Aspekte der Wahrnehmung sind das Sehen und Hören. Wenn wir von
einem autistischen Kind angesehen werden, haben wir oft das Gefühl, es würde
durch uns durchsehen. Sprechen wir es dann an, erfolgt meist keine Reaktion und
wir stellen uns die Frage: „Kann es uns nicht hören oder möchte es uns nicht
hören?“ Ändern wir den akustischen Reiz, in dem wir beispielsweise unsere
Stimme durch einen hohen Piep Ton ersetzen, kann es durchaus zu einer Reaktion
kommen. Aufgefallen ist mir in der Praxis auch immer wieder, dass Kinder mit
frühkindlichem Autismus keine Wahrnehmung in Bezug auf Kälte bzw. Wärme und
Schmerzen haben oder sie nicht zeigen.
Stereotype oder aggressive
(auch gegen sich selbst) Verhaltensweisen zeigen sich oft durch Veränderungen
ihrer Umwelt. Die stereotypen Verhaltensweisen dienen als Schutzfunktion, aber
auch als Ausdruck ihres inneren verzweifelten Konflikts.
Als letzten Punkt möchte ich
die übermäßige Bindung an Einzelobjekten
erwähnen, denn so habe ich Maja kennengelernt.
Als Maja zu uns in die Kita
kam, war sie circa ein Jahr alt. Zu dieser Zeit hieß es in unserem Hauskonzept
noch: Gruppenarbeit. Da ich bei den Kindern im Jahr vor der Schule gearbeitet
hatte, hatte ich nur sehr selten Kontakt zu ihr. Es gibt ein Bild, was ich vor
Augen habe, wenn ich an diese Zeit zurückdenke.
„Maja
steht mit Rucksack auf dem Rücken und Nuckel im Mund vor der Tür zur Treppe nach
unten.“
Ihr Blick wirkte ängstlich,
aber auf Ansprache reagierte sie nicht. So erlebte ich sie das erste Jahr bei
uns in der Kita.
Als Maja fast 5 Jahre alt
war, hieß es dann, sie kommt nach unten zu den Kindern im Jahr vor der Schule.
Zu diesem Zeitpunkt haben wir in der Abteilung bereits offen gearbeitet. Das bedeutet:
Es waren circa 38 Kinder, 5 Erzieher und 6 Funktionsräume. Wir alle hatten
keine Erfahrung mit Autismus und was das für unsere Arbeit oder auch für das
Kind bedeutet. Eine komplett neue Umgebung und keine Bezugsperson. Das sollte
ein großer Schritt für sie werden und auch unseren Erfahrungsbereich erweitern.
Zunächst haben wir uns mit
dem Krankheitsbild auseinandergesetzt und mit der bisherigen Bezugserzieherin
Gespräche geführt. Das nahm uns allerdings nicht die Bedenken, die wir zu
diesem Zeitpunkt hatten. Wir wussten, es muss eine Kollegin geben, die Maja
sehr intensiv in der Übergangsphase begleitet. Ich nahm diese Herausforderung
an und eine Kollegin im Haus gab mir das Buch „Dibs. Ein autistisches Kind
befreit sich aus seinem seelischen Gefängnis.“ von Virginia M. Axline.
„Mit fünf Jahren war Dibs so scheu und ungebärdig
wie ein kleines Tier. Er sprach nicht, lachte nicht, spielte nicht. Er war ein
zutiefst unglückliches Kind, eingesperrt in seinem seelischen Gefängnis. Mit sechs
Jahren aber war Dibs ein aufgeweckter Junge. Diese erstaunliche Wandlung
bewirkte Virginia Axline. Während eines Jahres kam Dibs jede Woche zu einer
Spielstunde und entwickelte unter ihrer behutsamen Führung seine eigene
Persönlichkeit. Schritt für Schritt hat die Autorin den erstaunlichen Weg
nachvollzogen. Von ihrer ersten Begegnung mit dem Kind, das "kein Lachen
und kein Glück" zu kennen schien, bis zu dem Tag, an dem Dibs strahlend
erklärte: "Ich komme und fülle mich wieder mit Glück." Ein fesselnder
und spannender Bericht!“[3]
Viele, die dieses Buch
gelesen haben, sagen natürlich, dass es sich nicht um ein autistisches Kind
gehandelt haben kann, sondern dass es stark verhaltensauffällig war. Das mag
sein, ich bin kein Arzt und kenne leider auch Dibs nicht, aber die Geschichte
hat mich gefesselt. Vor allem die Inhalte der Therapiestunden und die Art und
Weise, wie auf Dibs eingegangen wurde. Ich wollte es nun unbedingt probieren,
war hoch motiviert und habe den ersten Tag mit Maja herbeigesehnt.
Es war schließlich bald
soweit und ich wurde sehr schnell auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Maja
hat mich nicht wahrgenommen, Angebote nicht wahrgenommen und keinerlei Reaktion
gezeigt. Sie hat ausdauernd aus dem Fenster geschaut oder ist durch den Garten
gelaufen und hat dabei in den Himmel gesehen. Oft habe ich mich gefragt, ob sie
etwas Bestimmtes sucht oder Dinge sieht, die ich nicht wahrnehme. Ich war
fasziniert von ihr und wollte nicht aufgeben. Mein Steckenpferd in dieser
Abteilung war die Forscherecke, so dass ich den größten Teil des Tages dort
verbringen musste. Nun stellte ich mir die Frage, wie schaffe ich es, dass Maja
diesen Ort aufsucht? Ich glaube, ich konnte mit der Lage der Forscherecke bei
ihr punkten. Von dort aus ging es nämlich direkt ins Büro der Kitaleitung und
das fand Maja immer sehr spannend. Und so kam der Tag, dass sie von sich aus
hereingekommen ist.
Die Forscherecke war nicht
besonders groß. In der Mitte ein Tisch mit eingelassener Duschtrasse, in dem
sich Knetsand befand. Dieser Sand besteht zu „98 % aus bakterienfreiem,
natürlichen Quarzsand. Seine einzigartige Geschmeidigkeit verdankt das Produkt
einem patentierten, staubfreien, nicht toxischen Bindemittel namens PDMS.“[4]
Der Sand ist formbar und für die Förderung der taktilen Wahrnehmung sehr
geeignet. Wie sich gezeigt hat, darüber hinaus auch für die Förderung von
sozialen Beziehungen. Maja fand sehr schnell Gefallen an diesem Sand und kam
nun jeden Tag. Trotz alledem wurde ich weiterhin nicht beachtet oder
angeschaut. Ich saß also einige Wochen fast täglich neben Maja und knetete
wortlos mit ihr im Knetsand. Dabei habe ich immer wieder über das Buch „Dibs“ nachgedacht
und überlegt, welche Therapieinhalte auch in der Kita umsetzbar wären.
Irgendwann begann ich unser Spiel mit Worten zu begleiten, sprach sie dabei
jedoch nie direkt an. Ich sagte, welche Formen wir gerade benutzen oder was ich
gebaut habe. Langsam begann sie, sich die Dinge, über die ich sprach, anzusehen
und mein Gebautes kaputt zu machen. Mit der Zeit kamen auch einige andere
Kinder dazu und jeder baute für sich. Ich wollte wissen, ob Maja die Kinder
kennt und habe angefangen, sie zu bitten, mir bestimmte Ausstechformen zu geben
oder einem Kind am Tisch diese herüberzureichen. Es hat funktioniert. Sie
wusste genau, wie jedes Kind am Tisch heißt. Sie wusste genau, welche Namen die
Gegenstände hatten und es dauerte nun nicht mehr lange, bis wir alle gemeinsam
im Sand etwas bauen konnte. Dabei gab Maja auch ohne Worte genaue Vorgaben, was
genau gebaut werden soll! Alles andere wurde zerstört.
Ich hatte es also geschafft
und einen Zugang zu Maja gefunden. Wenn sie morgens in die Kita kam und ich
noch nicht im meiner Ecke war, suchte sie mich, nahm meine Hand und zog mich
zum Knetsand. Dies wurde zu unserem morgendlichen Ritual und als sie auch hier
sicher war, konnte sie mir nach unserem Ritual zeigen, in welchen Funktionsraum
sie wollte. In meiner Erinnerung nahm sie zunächst den nächstgelegenen Raum.
Das war das Atelier und sie machte hier sehr viel Erfahrungen mit Farbe und
Kleister. Es wirkte wie ein tägliches Experiment. Meine Kollegen und ich haben
sie experimentieren lassen. Das Chaos danach mussten zwar wir beseitigen, aber
sie genoss das Manschen und Kleistern. Worauf sie dabei immer sehr viel Wert
gelegt hatte, war im Anschluss die Reinigung bei sich selbst. Sie wusch sich
und zog sich bei Bedarf selbstständig um.
Ich machte mir wieder
Gedanken, habe an Dibs gedacht und überlegte gemeinsam mit meinen Kollegen, was
für Maja ein weiterer Erfahrungsbereich wäre. Wir beschlossen ein Bällebad
einzurichten. Es war ein für sie neuer Raum, den sie nur schrittweise
erkundete. Ich habe sie begleitet, ihr gezeigt, wie sie die Bälle spüren kann
und sie hat es nachgemacht. Mit der Zeit durfte ich auch andere Kinder dazu
lassen und sie hat sich mit ihnen gemeinsam auf das Spiel eingelassen. Das war
ein großer Fortschritt für sie.
Neben der täglichen Arbeit
in der Kita, gab es für Maja natürlich auch Therapien. Wir hatten das große
Glück, dass die Therapeuten zu uns ins Haus gekommen sind und wir bei den
Stunden auch hospitieren durften. In der Therapie lernte Maja die Kommunikation
über Bildkarten. Wir wollten dieses Prinzip im Kitaalltag integrieren, was uns
im Nachhinein allerdings nie wirklich gelungen ist. Sie waren sichtbar
angebracht, wir haben sie mit Maja und den Kindern besprochen. Maja bevorzugte
aber lieber die Kommunikation über den Körperkontakt. Wir hatten in den Monaten
alle einen sehr guten Zugang zu ihr gefunden. Sie hat auf uns reagiert und uns
angesehen. Sie hat gezeigt, was sie wollte und wie sie sich fühlte.
In der Musik zeigte sie ihre
Gefühle sehr deutlich. So gab es Lieder, bei denen sie glücklich und lachend
durch den Raum gesprungen ist und Töne von sich gab, bei denen wir den Eindruck
hatten, sie würde versuchen, mit zu singen. Es gab Lieder, bei denen sie die
anderen Kinder beobachtet und studiert hat und es gab Lieder, bei denen sich
das aggressive Verhalten geäußert hat. In diesen Situationen kam es auch häufig
vor, dass wir das Angebot beenden mussten und die anderen Kinder in die anderen
Räume schicken mussten. Ich weiß bis heute nicht, was die Auslöser dafür waren.
Es gab auch nur bestimmte Kinder, bei denen sie ihrer Wut freien Lauf ließ. Es
ist aber aufgefallen, dass sich diese Kinder äußerlich sehr ähnlich waren.
Das Jahr neigte sich leider
dem Ende und ich verließ die Kita. Ich muss aber sagen, dass ich nie wieder so
eine intensive Bindung zu einem Kind hatte, wie zu Maja. Sie konnte nach diesem
Kitajahr ihre Gefühle und Zuneigung oder Ablehnung zeigen. Sie hat uns umarmt,
hat uns einen Kuss auf die Wange gegeben und wenn sie eine Handlung nicht in
Ordnung fand, ihrer Wut freien Lauf gelassen. Es gab auch Kollegen, die sie bis
zum Schluss völlig ignoriert hatte. Das war für uns aber in Ordnung, da für uns
als Team eines feststand:
„Wir
wollen Maja das bestmögliche an Entwicklungschancen geben, was uns als Kita
möglich ist!“
Und genauso funktioniert es
in der inklusiven Arbeit! Wichtig ist, dass das gesamte Team die Entscheidung,
ein Kind mit dieser Besonderheit aufzunehmen, mit voller Überzeugung trägt und
sich das Team gegenseitig jeden Tag, der immer neue Herausforderungen mit sich
bringen wird, unterstützt!
#Autismus
#Autismus_in_der_Kita
[3] http://www.autismus-web.de/ vom 09.10.2016
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